Vortrags-Performance von Zeyno Pekünlü
In seinem Aufsatz Der Erzähler (1936) stellt Walter Benjamin fest, dass es immer weniger GeschichtenerzählerInnen gibt. Dies führt er darauf zurück, dass in der modernen Welt das Erleben aus erster Hand zunehmend durch Informationen ersetzt wird. 78 Jahre später, nach den schönsten und den schlimmsten Tagen in unseren Leben, nach dem großen Widerstand, der viele unserer Gefühle in ein neues Licht gerückt hat, stehen wir vor einem gigantischen Berg aus Analysen, Schriften, Videos und Bildern. Seit dem Beginn des neuen Jahrtausends lautet daher die Frage: Wie kann man Widerstand und zivilen Ungehorsam künstlerisch repräsentieren? Nach den Unruhen am Gezi-Park standen wir nur einmal mehr vor derselben Frage, bloß erschien sie dringlicher als je zuvor. Ich persönlich indessen dachte über einen möglichen Fehler im System nach: „Gibt es in unserer Zeit der Informationsflut überhaupt noch etwas, das nicht repräsentiert wird?“ Entspricht dieser Fehler im System gar Benjamins „epischer Seite der Wahrheit“ – der menschlichen Seite, Gefühlen, Affekten? In meiner Vortrags-Performance möchte ich an den Ursprung des Geschichtenerzählens zurückkehren. Der Erzähler erfindet seine Geschichte, um ein kollektives Erlebnis zu bewahren und publik zu machen. Dazu erzählt er eine Geschichte, die jede und jeder verstehen kann, ohne die Tatsachen, den Schauplatz oder den Ablauf des Ereignisses kennen zu müssen. Er oder sie erzählt eine Geschichte, die über das Dasein der Einzelnen hinausweist, deren Körper und Ich sich im großen Widerstandskörper auflösen, in dem es kein „ich“ mehr gibt und das „wir“ eine neue Dimension bekommt. Das einzige Mittel des Geschichtenerzählens ist das älteste Mittel, mit die Menschen Erfahrungen austauschen – die menschliche Stimme.
Die türkische Künstlerin Zeyno Pekünlü wurde 1980 geboren. Sie unterrichtet an der Kültür-Universität Istanbul und lebt ebenda.
Die Vortrags-Performance findet im Rahmen von „The School of Kyiv“ - Kyiv Biennial 2015 statt.
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WohinTippHQ 2 hours ago