"Woher nehmt ihr das Recht zu eurem unverschämten Verhalten? Etwa daraus, dass ihr anspruchsvolle, verwöhnte, unter Sorgen und Mühen eurer Eltern großgepäppelte Bälger seid? Bin ich euer Geschöpf? euer Gegenstand? euer Eigentum? Oder aber ein freier Mensch mit dem Recht auf freie Entschließungen?"(Matthias Clausen)Der siebzigjährige Geheime Kommerzienrat Clausen liebt eine etwa vierzig Jahre jüngere Frau. Doch weder seine Familie noch seine Umgebung haben Verständnis für die späte Liebe des alten Mannes. In aller Radikalität kämpft Clausen um sein Glück, um die Sonne, die für ihn wieder aufgegangen ist. Seine Kinder wiederum kämpfen verbissen um ihr Erbe, um die Firma. Clausens geistiger Verbündeter bei seiner Revolte ist ausgerechnet Goethe: der Dichter, der Mensch, der Anhänger eines heidnisch-dionysischen Sinnenlebens. Am Ende triumphiert die Generation der Erben, die das Lebenswerk der Eltern verwaltet – und eine Zeit, die nicht mehr vom Geist des Humanismus durchdrungen ist, sondern, wie Hauptmann schreibt, "mehr und mehr ihren einzigen Zweck im Profitmachen" sieht.Die Uraufführung von Vor Sonnenuntergang am 16. Februar 1932 im Deutschen Theater ist Hauptmanns letzte große Premiere und die letzte bedeutende Premiere in der Weimarer Republik überhaupt. Schon der Titel "Vor Sonnenuntergang" gibt zu erkennen, dass es sich hier um einen vom Dichter selbst so empfundenen Einschnitt handelt und um das Ende der Epoche, die einst mit Vor Sonnenaufgang eingesetzt hatte. Dass das Drama vom sang- und klanglosen Untergang des Geheimrats Clausen den bewussten Abschied von einem Zeitalter darstellt, in dem "Geist" und "Macht" einander bisweilen durchdrungen oder zumindest streckenweise nebeneinander existiert hatten, ist eine nicht nur im Rückblick verlockende These. Noch ist kein Jahr seit der Uraufführung vergangen, als Hauptmann 1933 in seinem Tagebuch kommentiert: "Stimmung vor Sonnenuntergang. Das Stück ist inzwischen geschrieben. Der Zustand scheint sich erst jetzt zu vollenden. Die Vergangenheit kapselt sich ab ... Das Geistige steht nicht mehr im Vordergrund. Es ist in Gefahr zu verschwinden." Wolfgang Leppmann
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Kommentare
WohinTippHQ 26 mins ago